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Im Blickpunkt
AZRAYEN'
von Frank Giroud (Szenario) und Lax (Zeichnungen)
Gesamtausgabe in 1 Band

Während des Algerienkriegs verschwindet im Januar 1957 eine komplette Einheit französischer Truppen in den Bergen der Kabylei. Hauptmann Valera soll sie finden, aber er hat so gut wie keinen Anhaltspunkt. In seiner Unsicherheit greift auch er schließlich zu Methoden von äußerster Brutalität. Auf 1000 Exemplare limitierte einbändige Gesamtausgabe.

Originaltitel und Verlag: "Azrayen'", Dupuis

 

Lax, der Zeichner

Der Zeichner und Autor Lax (eigentlich: Christian Lacroix) wurde am 2. Januar 1949 in Lyon (Mittelfrankreich) geboren. Nach einem Kunststudium in St. Etienne arbeitete er zunächst für die Werbung. 1975 kam sein erster Comic heraus, gefolgt von anderen Kurzgeschichten. Im Verlag Glénat erschienen mehrere Alben, darunter ab 1987 die Historienserie "La marquise des lumières" (Autor Patrick Cothias; dt. als "Die Zeit der Aufklärung" bei Feest).

Weithin beachtet wurden in den Folgejahren die nach Vorlagen von Frank Giroud entstandenen und in der Reihe "Aire Libre" des Verlags Dupuis erschienenen Alben "Les oubliés d'Annam" (1990/91), "La fille aux ibis" (1993; dt. "Die Frau aus dem Delta" bei comicplus+) und "Azrayen'" (1998/99). Dupuis brachte auch die mehrbändige, von Lax selbst verfasste Krimiserie "Le Choucas" (ab 2000). Zuletzt sah man den Franzosen mit dem unkonventionellen Roadtrip "Un certain Cervantès" 2015 bei Futuropolis (dt. "Ein Mann namens Cervantes" bei Splitter).

Frank Giroud, der Autor

Mit "Le Décalogue", wie "Zehn Gebote"« im Original heißt, hat sich Frank Giroud in die vorderen Ränge seiner Zunft vorgearbeitet. Auch in Deutschland wurde er gewürdigt: Auf dem Erlanger Comic-Salon von 2002 erhielt Giroud den Max-und-Moritz-Preis als "Bester Autor".

Der am 3. Mai 1956 in Toulouse geborene Franzose, ein studierter Historiker, begann Ende der 70er Jahre Comics zu schreiben. Seine erste längere Serie war 1982 das politisch motivierte "Louis la Guigne" (Zeichnungen Paul Dethorey; dt. als "Louis Lerouge", nach 6 Bänden abgebrochen bei Ehapa). Weitere Titel folgten, von denen insbesondere die in der Zusammenarbeit mit dem Zeichner Lax entstandenen Alben überzeugen. "Les oubliés d'Annam" (1990/91) liegt bisher nicht auf deutsch vor, anders "La fille aux ibis" (1993; dt. "Die Frau aus dem Delta") und "Azrayen" (1998/99), die beide bei comicplus+ erschienen sind. Arboris hat sich des Detektivcomics "Mandrill" (Zeichnungen Barly Baruti; in der Reihe "Mord und Totschlag") angenommen.

2001 folgte der erste Band der Serie, die den Ruhm des Autors begründete: "Le décalogue" (dt. "Zehn Gebote" bei comicplus+). Während des Ägyptenfeldzugs macht ein Mitglied von Napoleons Expeditionskorps eine aufsehenerregende Entdeckung. Er stößt auf die zehn Gebote des Propheten Mohammed, geschrieben auf den Schulterknochen eines Kamels. Der Fund in der Wüste wird zur Grundlage eines zeitgenössischen Romans mit dem Titel "Nahik". In insgesamt zehn Alben inszenierte Giroud die spannende Geschichte eines humanistischen Regelwerks, das jüdische, christliche und islamische Vorstellungen in sich vereint. In der Anschluss-Serie "Zehn Gebote: Das Erbe" ("Le Légataire"; Zeichner Béhé; dt. bei comicplus+) warf der Autor schließlich noch einmal ein ganz neues Licht auf Mohammeds Dekalog.

Um ein mysteriöses Bild aus dem Mittelalter, das Ereignisse darstellt, die zur Zeit seiner Entstehung noch gar nicht geschehen waren, geht es in "Der Triumph des Heiligen Waldemar" (ab 2003; "L'Expert"; Zeichnungen Brada; dt. bei comicplus+). Ähnlich unkonventionell wie das rückwärts erzählte "Zehn Gebote" war die Serie "Quintett" angelegt (diverse Zeichner, ab 2005; dt. bei comicplus+), in der der Autor erneut das Thema des ineinander Verwobenseins individueller Schicksale aufgriff. In Frankreich folgten unter anderem "Le cercle de Minsk", das 14bändige "Destins", die über 20 Alben umfassende Serie "Secrets" und zuletzt die Serien "Galkiddek" (dt. im Splitter Verlag) und "Le Vétéran".

Am 13. Juli 2018 erlag Frank Giroud im Alter von nur 62 Jahren der schweren Krankheit (Knochenmarkskrebs), gegen die er lange gekämpft hatte.

Ein vergessener Krieg?

Das Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Sieg der "freien Welt" über die totalitären Regime gab den Algeriern die Hoffnung auf Unabhängigkeit. Frankreich jedoch dachte gar nicht daran, seine Kolonie aufzugeben. Ab 1954 begann der bewaffnete Aufstand, der sich bald zu dem ausweiten sollte, was wir heute als Algerienkrieg bezeichnen. Im März 1954 war in Kairo von Ahmed Ben Bella die Front de Libération Nationale (FLN), die nationale Befreiungsfront, gegründet worden, deren bewaffneter Arm, die Nationale Befreiungsarmee (ALN) im November desselben Jahres die militärische Auseinandersetzung mit Frankreich aufnahm. Beide Seiten führten den Krieg mit brutaler Härte. Die FLN verübte immer wieder Attentate, worauf das französische Militär mit Hinrichtungen, Folter und dem Auslöschen ganzer algerischer Dörfer antwortete, den Methoden der sogenannten "französischen Doktrin".

Die Große Kabylei, ein bergiges, weitgehend unerschlossenes Hochland südöstlich von Algier, bot den Unabhängigkeitskämpfern gute Möglichkeiten unterzutauchen. Dieses Gebiet war eine Stammregion der Berber - diesen Namen, eine Ableitung von "Barbaren", trugen sie seit der Römerzeit. Sie selbst nennen sich Imazighen, "Freie". Seit 1956 wurde der Zweig der FLN in der Kabylei ("Wilaya 3") von Amirouche Aït Hamouda geführt, einem fähigen, aber auch rücksichtslosen Strategen, der nicht nur die Franzosen mit Überfällen und Attentaten beunruhigte, sondern der auch die Anhänger einer konkurrierenden Unabhängigkeitsbewegung, des von Ahmed Ben Messali Hadj geleiteten MNA (Mouvement National Algérien), ausschaltete.

Die in diesem Gebiet operierenden französischen Soldaten hatten allen Grund zu höchster Wachsamkeit und zu großem Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber. Dennoch gab es nach Bekanntwerden des brutalen Vorgehens in Algier inzwischen auch unter den Offizieren Vorbehalte, was den ungezügelten militärischen Einsatz anging. Frank Giroud zeigt in "Azrayen'" diesen Zwiespalt auf, der insbesondere dann zutage tritt, wenn die Soldaten engen Kontakt zur Bevölkerung und damit Verständnis für deren verzweifelte Lage bekommen. Die Haltung der Berber zu den Besatzern schwankt zwischen Vorsicht, Angst und Anbiederung auf der einen und Feindseligkeit und Abscheu auf der anderen Seite. Diese Nuancen unterbreitet Giroud dem Leser mit einem profonden Sinn für Menschlichkeit, einem Humanismus, der in "Azrayen'" unterstützt wird von den ebenso "schönen" wie zerrissenen und aufwühlenden Zeichnungen von Christian Lacroix, genannt Lax. Ende der 80er Jahre hatte der Autor Frank Giroud ein Fototagebuch gefunden, das sein Vater zusammengestellt hatte, während er 1956 im Algerienkrieg war.


Eine Geschichte aus Algerien
Erzählt von Frank Giroud

Da war zunächst dieses Foto: vier Soldaten im Schnee, einpackt in eine dicke Uniform, den Helm auf dem Kopf. Links von dem Griesgram mit der Maschinenpistole steht ein Soldat mit verträumten Augen... mein Vater. Und es gab ein paar handschriftlich angefügte Zeilen:

Halt im Schnee
Der Kleine in der Mitte ist ***, ein Pied-noir, ein Algerienfranzose. Sein Vater wurde zu Beginn der Aufstände von einem Araber getötet. Gewalt erzeugt Gegengewalt, und so tat sich *** jetzt bei den Befragungen hervor - Befragungen, für die man früher Folter gesagt hätte. Heiligt der Krieg wirklich alle Mittel? Muss da nicht das Herz eines Menschen, dessen Vater ermordet wurde, versteinern?

Auf den nächsten Seiten folgten noch mehr Bilder, auf denen der Verfasser dieser Zeilen fehlte. Ihm hatte offenbar der Fotoapparat gehört. Neben jedem Foto ein knapper, aber treffender Kommentar. Das Auge und die Hand meines Vaters. In all dem spürte ich sein Staunen und seine Neugierde, seine Bitterkeit und seine Träume... die eines zwanzigjährigen jungen Mannes, über den ich kaum etwas wusste. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich das Fotoalbum entdeckte, war er für mich immer nur der liebe Vater gewesen, den ich jetzt nur wenig sah und von dem ich ein Bild im Kopf hatte, das sich sehr von diesem Tagebuch unterschied. Ein mal lustiger, mal ernster Vater, immer besorgt um die Zukunft seiner Kinder, der sich in Gesprächen kaum hinter die Fassade blicken ließ. Eine unruhige Kindheit, die deutsche Besatzung und die Opfer, die sie forderte, die Arbeit in der Fabrik und schließlich der Krieg. Ein anderer Krieg, der in Algerien. Eindringliche, dramatische, aber auch flüchtige Bilder, kommentiert von einem Erzähler, den ich nicht kannte. Nichts, was ich daraus ableiten konnte. Als ich diese Fototagebuch fand, war das für mich eine Art Schock.

Der Krieg ist da, wild, direkt, wirklicher als in jedem Roman. Das Tagebuch umfasst nur einige Monate, aber für mich ist es so, als breite es den Krieg in seiner Gänze vor mir aus, mit allen seinen Zutaten, seinen Akteuren, aus jeder Perspektive. Mein Vater besaß schon damals eine Qualität, die ihn sein Leben lang begleitete und die er auch mir immer wieder zu vermitteln versuchte: die Toleranz. Die ganze Zeit über, in der er in das algerische Drama verwoben war, bewahrte er die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Ob es der auf Rache sinnende Pied-noir war, der gnadenlose Untergrundkämpfer, der verhärtete Unteroffizier, der hysterische Rekrut - er verurteilte niemand. Er beobachtete, gehorchte wenn nötig, aber immer versuchte er, die Menschen zu verstehen. Manchmal sind seine Bilder und Worte wie eine enge Schlucht, manchmal ergreift er wie aus dem Flug einen Augenblick des Glücks und versucht ihn festzuhalten, als könne er damit das Schlechte verbannen.

Ein ehrlicher Blick, der nichts verschleiert, ungeschminkte Fotos, einfache Sätze von einem, der die Schule viel zu früh verlassen musste. Und dennoch spürt man hinter dieser Distanz die Emotion. In unserer Familie war es fast ein Tabu, über Gefühle zu reden; ich hätte so etwas bei meinem Vater nie vermutet. Und dann taucht dieser Zug urplötzlich auf, in der Schilderung eines vergessenen Krieges. Wie zwei Millionen anderer Einberufener spielte der Obergefreite Michel Giroud-Paturel in diesem Krieg den unfreiwilligen Helden, während ich im Bauch seiner Frau darauf wartete, dass er heil zurückkehrte. Musste ich das der Welt nicht erzählen?

Es zu wollen, war eine Sache, dies auch zu tun, eine andere. Zehn Jahre lagen zwischen dem Entschluss, die Algerien-Erlebnisse meines Vaters wiederaufleben zu lassen, und dem Erscheinen meines Comics. Die "Operation Azrayen'" startete 1989, während ich mit den beiden leitenden Lektoren des Verlags Dupuis, Philippe Vandooren und Claude Gendrot, und mit meinem Vater zu Mittag aß: Ein Comic, der auf den Erfahrungen meines Vaters basieren sollte. Er selbst würde in dieser Geschichte auch vorkommen, in aller literarischen Freiheit. Es war meine Absicht, die Gefühle und Erlebnisse eines Soldaten zu zeigen, der gegen seinen Willen Teil der Weltgeschichte geworden war...

(Der obige Text ist ein Auszug aus dem etwa 20seitigen Nachwort zu "Azrayen'")

Der Algerienkrieg im Film

Erst 1999 erkannte die französische Nationalversammlung die "Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Nordafrika" zwischen 1954 und 1962 offiziell als "Algerienkrieg" an. In Deutschland ist der Krieg noch weniger präsent als im modernen Frankreich, deswegen hier ein paar ins Thema einführende Filme:

"Die Schlacht um Algier" ("La Battaglia di Algeri", 1966). Der vielgerühmte Klassiker.
"Der Feind in den eigenen Reihen" (L'Ennemi intime", 2007). Spielt in der Kabylei.
"Der Verrat" ("La trahison", 2006). Der Konflikt der Algerier in der französischen Armee.
"Sie hat alles gestanden" ("Pour Djamila", 2011). Der eigenartige Prozess gegen eine gefolterte Algerierin.

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